
100 Jahre J-Rad

„Es ist eigentlich kein Fahrrad, sondern eher ein kleines bequemes Fahrzeug…“
100 Jahre J-Rad
Das Fahrrad ohne Kette, 1921 – 2021
Eine Zusammenfassung der Geschichte des J-Rad und Paul Jaray.
Dieses 100-Jahr-Jubiläum müsste gebührend gefeiert werden, doch durch die Corona-Pandemie sind die von j-rad.ch geplanten Anlässe 2021 abgesagt.
1921 revolutionierte der Ingenieur Paul Jaray die Fahrradwelt mit einem neuartigen Fahrrad, das ohne Kette fuhr. Durch die aufrechte Sitzhaltung erfüllte seine Konstruktion die Vorzüge eines idealen Familienrades und befeuerte gleichzeitig die Sessel- und Liegeradszene.
In der Friedrichshafener Zeitung „Seeblatt“ stand am 8. Januar 1921 folgendes zu lesen: „Es ist eigentlich kein Fahrrad, sondern eher ein kleines bequemes Fahrzeug…“. Dies war die erste Veröffentlichung des Fahrrads mit dem Namen „J‑Rad“, welches ohne Kette und Pedalkurbeln bequem zu fahren war.
Darauf vermeldete am Samstag, 29. Januar 1921 die „Württemberger Zeitung“, dass auf der „Feuerbacher Heide“ in Stuttgart ein neuartiges Fahrrad mit dem Namen „J‑Rad“ vorgestellt wurde. Der geniale Konstrukteur und Ingenieur Paul Jaray aus Friedrichshafen stellte das vom Design und von der Technik neue Fahrrad persönlich der Presse und den geladenen Gästen vor. Unter den Prominenten befand sich auch der Direktor Vetter von den „Hesperus-Werke“ in Stuttgart, welcher zu diesem Zeitpunkt bereits mit der Produktion des J‑Rades begonnen hatte.
Das vor 100 Jahren entwickelte Sesselrad hatte eine Besonderheit: Statt des herkömmlichen Antriebs mit Kette und Pedalkurbeln wurde die Kraft mit Hebelantrieb und Stahlseilen übertragen. Paul Jaray hatte sich beim Entwurf des neuen Rades die Aufgabe gestellt, mehrere Nachteile des etablierten, kettengetriebenen Fahrrades zu beseitigen. An erster Stelle sollte der Antrieb den störenden „Totpunkt“ überwinden. Außerdem wollte er ein Zweirad entwickeln, das unabhängig von Größe oder Geschlecht von allen gefahren werden konnte. Mit einfachem, konstruktivem Aufbau des Rades strebte er eine leichte Bedienbarkeit und niedrige Anschaffungskosten an. Aufgrund seiner Arbeit als Chef-Aerodynamiker bei der Firma „Luftschiffbau Zeppelin“ in Friedrichshafen flossen auch aerodynamisch-konstruktive Elemente in die Neukonstruktion ein.
Den Anstoss zur Entwicklung des J‑Rades im Jahre 1919 gaben wahrscheinlich die ersten Fahrversuche von Paul Jaray’s Kindern auf gebräuchlichen Rädern. Der Name des Fahrrades, „J‑Rad“ setzt sich zusammen aus dem „J“ für Jaray und „Rad“ für Fahrrad. Im Volksmund wird auch vom „Jaray-Rad“ gesprochen.
Die lange Bauform und die niedrigere Sitzposition ermöglichten eine gute Straßenlage und einen geringen Luftwiderstand. Der Sattel wurde als gepolsterter Sessel mit Rückenlehne ausgebildet. Die Rückenlehne entfaltet ihre volle Wirkung beim Bergauffahren, da sie als Widerlager zu den Tretbewegungen fungiert und ein Abrutschen vom Sitz verhindert. Somit wurde das J‑Rad der Kategorie Sesselrad zugeordnet.
Antrieb
Die zwei Trethebel werden abwechselnd rechts und links mit den Füssen nach vorne gestossen. Am unteren Ende jedes Trethebels befindet sich ein Stahlseil, das auf eine zugehörige Seilrolle am Hinterrad gewickelt ist (Prinzip Jo-Jo-Spielzeug). Ein drittes Stahlseil stellt eine Verbindung zwischen den beiden Seilrollen her, indem seine beiden Enden jeweils zusätzlich an einer der beiden Seilrollen befestigt ist.
Das dritte Seil hat die Funktion, die nach vorne getretenen Trethebel wieder in ihre Ausgangsposition zurück zu holen. Damit dieses dritte Seil immer in gleichmässiger Spannung bleibt, befindet sich eine horizontale Umlenkrolle mit Zugfeder unter dem tiefsten Rahmenpunkt in einem Blechkasten. Der doppelte, unabhängige Freilauf in der Hinterrad-Nabe, der mit den zwei Seilrollen verbunden ist, bewirkt den Vortrieb des J‑Rades. Die Hinterradnabe wurde von Fichtel & Sachs als Weiterentwicklung der berühmten Torpedo-Nabe in Schweinfurt gefertigt.
Der Bewegungsablauf kann auf YouTube unter „J‑Rad Sesselrad“ betrachtet werden.
Gangschaltung
Auch die Gangschaltung an diesem Fahrrad war nicht alltäglich. Für Geschwindigkeitsänderungen nutzte Jaray das Hebelgesetz. Die zwei beweglichen Trethebel des Rades sind am vorderen Teil des Rahmens befestigt und mit je drei gleichmässig versetzten, horizontalen Fussrasten versehen. Die Fahrer*in überträgt ihre Körperkraft auf die drei Rasten der Trethebel. Die Abstufungen der Tritte wirken als Verkürzung oder Verlängerung der Hebel und so entsteht ganz einfach eine Schaltung mit drei Gängen. Es gab auch eine Ausführung mit zwei Fussrasten pro Trethebel, die vor allem in die Niederlande verkauft wurde.
Drei Prototypen
Jaray entwickelte drei Prototypen, wovon der zweite Prototyp in überarbeiteter Form in die Produktion ging. Vom 3. Prototypen existieren heute lediglich technische Zeichnung und ein Foto. Da zum heutigen Zeitpunkt kein Rad dieses Entwurfs bekannt ist, muss angenommen werden, dass er nie in Produktion ging. Im Gegensatz zu dem in Serie gebauten J-Rad fehlt dem 3. Prototypen das komplette System der Seilspannung unter dem Rahmen, wodurch ein niedrigeres Gewicht resultierte und weniger aufwändiger in der Konstruktion wurde.
Resonanz
Eine solch revolutionäre Erfindung wie das J‑Rad, stellte die Fahrradgeschichte ein weiteres Mal auf den Kopf. Es war eine echte Herausforderung, nach dem ersten Weltkrieg in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit, ein solch spezielles Fahrrad zu verkaufen. Auch in den nachfolgenden Jahren wurden weitere, ähnliche Sesselräder mehr oder weniger erfolgreich vermarktet. So zum Beispiel die deutschen Räder „Windsbraut“ (1922) und das „Oval-Rad“ (ca. 1936), sowie das französische „Velocar“ aus den 1930er Jahren. Dem J‑Rad gebührt die Ehre, mit seiner Konstruktion wegweisend für die nachfolgende Sessel- und Liegeradszene zu sein.
Das Aus
1923 kam das Aus der Produktion bei den Hesperus-Werken in Stuttgart. Nach mündlicher Überlieferung soll “wegen tödlicher Unfälle infolge Materialfehler” sowie „ein Gerichtsverfahren“ die Produktion eingestellt worden sein. Diese Aussage konnte bis heute nicht belegt werden. Gemäss Dokumenten vom Hersteller wurden Restbestände vermutlich noch bis 1925 verkauft.
Lange Zeit nahm man an, dass ca. 2000 J-Räder gebaut wurden. Erst 2016 konnte belegt werden, dass es ca. 4000 Stück waren. Zurzeit sind weniger als hundert Exemplare bekannt. Die Rahmennummern der registrierten J-Räder können auf www.j-rad.ch eingesehen werden.
Technische Details
Name: J‑Rad
Baujahr: 1921-1923
Konstrukteur: Paul Jaray
Hinterrad: 26 x 1½ Zoll Wulstreifen
Vorderrad: 20 x 1½ Zoll Wulstreifen
Hinterradnabe: Fichtel & Sachs
Vorderradnabe: unbekannt
Bremsen: „Bowden“ und/oder „IDEAL“
Gewicht: 19 kg
Preis: 220 Goldmark
Zubehör: Karbidlaterne oder elektrische Lampe, Klappständer hinten, Gepäckträger vorne/hinten, Kindersitz
Paul Jaray
1889 geboren in Wien als 5. Kind des jüdischen, in Ungarn gebürtigen Kaufmanns Adolf Jaray-Schönberg und dessen Frau Terese.
Nach der Realschule studierte er Maschinenbau in Wien. Assistierte dann an der technischen Hochschule Prag. 1912 Ehe mit Olga, geb. Jehle, drei Kinder: Johanna “Hansi”, Peter und Werner. Umzug nach Friedrichshafen, wo er zuerst bei Kober Flugzeugbau und ab 1914 Ingenieur bei der Luftschiffbau Zeppelin war. 1917 konvertierte er zum Katholizismus. Auf Anraten von Freunden zog er 1923 in die Schweiz nach Brunnen. Die zweite und dritte Ehe blieb kinderlos. Paul Jaray starb am 22. September 1974 in St. Gallen (CH).
Paul Jaray war ein genialer Konstrukteur, Ingenieur und Aerodynamiker. Uns ist nicht wirklich bewusst, wie viele Teile seiner Erfindungen und Ideen im heutigen Alltag allgegenwärtig sind. Aufgrund seines Erfindungsreichtums entwickelte er unter anderem aerodynamische Autos, Flugzeuge, Propeller, Windkanäle, Radioempfänger und Wasserturbinen. Jaray’s Tätigkeit als Architekt ist weitgehend unbekannt geblieben.
Sein erfolgreichstes Projekt für die Allgemeinheit war sein „Stromlinienwagen“, für den er am 13. Oktober 1920 eine erste Skizze anfertigte. Die Aerodynamik seines ersten realisierten Autos „Ley Typ 6“ wurde über Jahrzehnte von keinem anderen Tourenwagen übertroffen. Der 1939 im Windkanal gemessene, geringe Luftwiederstand dieses ersten Versuchsfahrzeuges war so niedrig (cW=0.245), dass erst im Jahr 2014 ein Serienauto die damaligen Widerstandswerte erreichte.
Die Automobilhersteller konnten sich anfänglich mit der futuristisch anmutenden, aerodynamischen Karosserieform von Jaray’s Autos nicht anfreunden. Erst Jahre später interessierten sich erfolgreiche Autobauer wie Audi, Maybach, Mercedes usw. für diese Erfindung. Paul Jaray wird daher als „Vater der Stromlinie“ bezeichnet.
Paul Jaray’s erfinderisches Wirken begann in Deutschland unter goldenen Vorzeichen. Doch endete dies 1974 in der Schweiz, wo er als mittelloses Genie starb.
Paul Jaray’s Nachlass ist im Hochschularchiv an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETHZ) archiviert.
Hochschularchiv ETHZ
J‑Rad auf YouTube:
https://www.youtube.com/channel/UCRSsRHlDhUgpQYav63vITmA
Armin Lindegger, CH-Wikon, 2021
www.j-rad.ch
info@j-rad.ch